Sie können den Taliban nicht mehr entkommen

In Afghanistan sind die Taliban - wieder - an der Macht. Was bedeutet das für die Menschen dort, für Mädchen und Frauen, und für alle, die an eine friedliche Zukunft und Demokratie geglaubt haben? Die Menschenrechtsaktivistin und Journalistin Mechthild Geyer aus Wien über geplatzte Träume und zerstörte Hoffnungen.

von
Peter Arp
und

Peter

Mechthild, wenn du an die Situation in Afghanistan denkst, was geht dir  in erster Linie durch den Kopf?

Mechthild

Das bestimmende Gefühl ist die Verzweiflung und die Hilflosigkeit von 35 Millionen Afghaninnen und Afghanen. Ich bin der Überzeugung, 97% der Bevölkerung sind nicht einverstanden mit diesen einfältigen, rückwärts gewandten System der Taliban. In dieser Situation fühlen sich die Menschen von der internationalen Gemeinschaft, insbesondere den USA, aber insgesamt von der internationalenGemeinschaft, verraten und hilflos zurückgelassen.

Peter

Du  hast vielfältige Kontakte nach Afghanistan, nach Kabul. Wenn du an die Menschen denkst, mit denen du gerade noch in Verbindung warst vor kurzem und die du jetzt nicht mehr erreichen kannst - was glaubst du wie es ihnen nun geht?

Mechthild

Wenn ich an diese Menschen denke, blutet mir das Herz und krampft sich mein Magen zusammen, weil ich nicht weiß wie es Ihnen geht. Weil ich ahne, dass sie unendliche Angst haben müssen, um ihr Leben und um das Leben ihrer Angehörigen. Ich habe intensiv Kontakt gehabt mit zwei aus Österreich abgeschobenen jungen Männern, die im übrigen beide perfekt deutsch sprechen. Beide sind in Kabul derzeit untergetaucht. Sie verstecken sich, sie haben panische Angst, dass die Taliban feststellen, dass sie einfach demokratisch sind, dass sie Frauen auf Augenhöhe begegnen, dass sie im Westen waren. Allein das erscheint den Taliban schon wie ein Schwerverbrechen. Sie haben 24 Stunden nach ihrer Ankunft  in Kabul damit begonnen, jedes einzelne Haus nach "Verrätern" zu durchsuchen, diverse behördliche Dokumente mitzunehmen. Was damit geschieht, weiß niemand. Die beiden haben sich an mich gewandt mit der Bitte, sie jetzt nicht mehr zu kontaktieren, weil sie Angst haben, dass die Kontaktaufnahme genau mit dem Zeitpunkt zusammenfällt, wo ein Talib bei ihnen im Wohnzimmer steht und sie das im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf kosten würde.

Peter

Einige Expertinnen und Experten hier sagen: die Taliban, die jetzt an die Macht gekommen sind, müssen ja nicht unbedingt gleichgesetzt werden mit den Steinzeit-Islamisten von vor 25 Jahren. Andere meinen, es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Maske endgültig fällt. Was ist deine Wahrnehmung?

Mechthild

Ich hatte zuerst eine leise Hoffnung: die Taliban erleben ja im Prinzip gerade eine unendliche Selbstwirksamkeit, sie werden von der Weltgemeinschaft unwahrscheinlich ernst genommen, ihre Stimme hat derzeit Gewicht, sie sind auf den Titelseiten aller Nachrichtenblätter rund um den Globus. Und ich hatte gehofft, dass Ihnen dieses Gefühl von Selbstwirksamkeit, das ein zutiefst menschliches Gefühl ist, dazu verhilft zu sagen: okay, wir sind wichtige Global Player, es wird uns zugehört, wir können in der Weltpolitik Akzente setzen, und wir verhalten uns jetzt entsprechend. Aber als unmittelbar nach dem Einmarsch in Kabul die Suche nach "Verrätern" und belastenden Dokumenten losging, habe ich die Hoffnung verloren, dass es sich hier um eine irgendwie fortschrittliche oder zukunftsorientierte neue Generation der Taliban handelt. Ich bin inzwischen überzeugt, ihr Weltbild hat sich in überhaupt keiner Weise geändert im Vergleich zu 1996, wo sie schon einmal die Macht übernommen haben. Dieses Weltbild ist einfältig, rückwärtsgewandt und menschenverachtend, und daran wird sich nichts ändern.

Peter

Wir haben in einer gemeinsamen Episode - das war die Nummer 16 - den afghanischen Kulturverein von Ghousuddin Mir in Wien vorgestellt. Er kümmert sich vor allem um junge Menschen, viele davon durch die Flucht traumatisiert und durch den Krieg, den sie jahrelang erlebt haben, mit dem sie und in dem sie aufgewachsen sind. Eine wichtige Arbeit, integrationsfördernd, schwierig, aber er tut sein Bestes. Außerdem fährt Ghousuddin ein bis zweimal im Jahr nach Kabul, um sich dort um Schulen für junge Mädchen einzusetzen, für ihre Ausbildung und Zukunft. Ist diese Hoffnung nun zerstört?

Mechthild

Ja. Ghousuddin ist zuletzt im Juli vollkommen verzweifelt zurückgekehrt, weil schon da klar war, dass die afghanische Regierung zu schwach ist, ihre Bürgerinnen und Bürger adäquat vor Terroristen zu schützen. Er hat trotzdem die Mädchenschule besucht, er hat trotzdem Schulbücher gekauft, er hat trotzdem Schulbänke gekauft, er hat in all dieser Verzweiflung wieder ein kleines Licht der Hoffnung gesetzt. Jetzt meine ich - es fällt mir sehr schwer das zu sagen - dass diese Kraftanstrengung umsonst war, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass binnen Kurzem alle Mädchen davon abgehalten werden, die Schule überhaupt noch zu besuchen. Der Traum von Ausbildung, Menschenrechten und Demokratie ist mit einem Schlag wie eine Seifenblase zerplatzt und die Mädchen und Frauen müssen sich wieder fügen und können sich nicht mehr verwirklichen. Sie sind gefangen in einem menschenverachtenden, terroristischen, islamistischen System.

Peter

Mit der Besetzung sämtlicher Grenzübergänge durch die Taliban, mit der Schließung der Grenze nach Pakistan, ist die Flucht aus Afghanistan kaum mehr möglich. Das heißt, die Menschen sind gefangen in der aktuellen Situation der Unterdrückung und in ihrem Land, also doppelt.

Mechthild

Ja, sie sind sozusagen eingekesselt, es gibt keinen Weg mehr hinaus, nach Pakistan etwa, was ich in einem gewissen Sinn sogar verstehen kann. Auch wenn das furchtbar ist, kann ich verstehen, dass ein Land, das so arm ist und selbst so instabil ist wie Pakistan, unter der Last von noch einmal mehreren Millionen Afghanen zusammenbrechen würde. Es gibt für also für den Großteil der afghanischen Bevölkerung derzeit überhaupt kein Entkommen.