Feminismus auf der Flucht

Mit unserem Verein Zeltschule e.V. setzen wir uns seit 2016 für die Bildung und Versorgung von syrischen Geflüchteten in den unbetreuten Lagern im Libanon und in Syrien ein.

Gerade Mädchen und Frauen bewusst und gezielt zu unterstützen, zu fördern, auszubilden und zu ihrer Unabhängigkeit beizutragen, war von Anfang an eines unserer größten Anliegen. Überall auf der Welt stehen Mädchen und Frauen ganz besonderen Herausforderungen gegenüber – ganz besonders im Krieg und auf der Flucht, nahezu rechtlos und ohne jeglichen Schutz. Weite Wege, traumatische Erfahrungen und ganz individuelle Geschichten führen sie in unsere Camps, die einzige Gemeinsamkeit scheint der Wunsch nach Sicherheit und Unabhängigkeit zu sein, den sie alle teilen.

Unser Grundsatz ist, dass Hilfe nur auf Augenhöhe funktionieren kann, nur in ständigem direktem Austausch zwischen denen, die helfen, und denen, die Hilfe brauchen. Echte Hilfe darf nie von außen aufgestülpt werden, sondern erfolgt im täglichen, intensiven Gespräch und immer aus einem Verständnis des wirklichen Problems heraus. – Das gilt selbstverständlich auch für unsere Invicta-Kampagne. Deshalb ist es uns wichtig, den individuellen Bedürfnissen von Mädchen und Frauen auf ihrem Weg ganz individuell und flexibel zu begegnen: in unterschiedlichen Programmen, die sie da unterstützen, wo sie stehen bzw. wo sie vom Krieg hingestellt wurden.

Sowohl im Libanon als auch in Syrien gab und gibt es feministische Bewegungen, doch wenige Dinge beeinflussen den Kampf der Frauen um Gleichstellung und Emanzipation so stark wie ein Krieg. Not und Hunger bringen viele Familien dazu, ihre Töchter wieder sehr früh zu verheiraten, damit diese versorgt sind und weil sie selbst nicht wissen, wie lange sie sie noch ernähren können. Verwaiste Mädchen, die durch den Krieg nie die Chance hatten, zur Schule zu gehen, sind gezwungen, zu heiraten, weil sie als Analphabetinnen keine Aussicht darauf haben, je eine gute Arbeit zu finden.

Tausende Kriegswitwen sind nicht in der Lage, ihre Kinder allein zu versorgen.

Die Nöte der Frauen sind vielfältig – genauso wie unsere Lösungsansätze. Wir möchten, dass Frauen UNABHÄNGIG sind und Fähigkeiten und Fertigkeiten erlernen, die sie in die Lage versetzen, freie Entscheidungen zu treffen und sich und ihre Familie ohne Hilfe zu versorgen.

Der von Jaqueline Flory gegründete gemeinnützige Verein Zeltschule e.V. errichtet Schulen in Flüchtlingscamps im Libanon und in Syrien. Er unterstützt Kinder und ihre Familien, um gemeinsam eine sichere und selbstbestimmte Perspektive für ihre Zukunft zu schaffen.

Alphabetisierung

Etwa 30 % der Frauen bzw. der Mütter in unseren Camps können nicht lesen und schreiben. Während Frauen aus syrischen Großstädten oft ein sehr hohes Bildungsniveau haben, fehlt in den armen ländlichen Gebieten oft das Geld, alle Kinder in die Schule zu schicken – häufig sind es dann eben nur die Jungen, die diese Chance erhalten.

Als wir den Alphabetisierungskurs 2017 erstmalig in den Camps vorgestellt haben und von Zelt zu Zelt gegangen sind, um die Frauen dazu einzuladen, waren die Reaktionen sehr verhalten. Die Frauen haben sich geschämt. Umso stolzer waren wir auf die 98 Pionierinnen, mit denen wir begonnen haben.

Heute besuchen über 600 Frauen unsere Alphabetisierungskurse und die Warteliste ist lang. Unser Unterricht ist praktisch angelegt: Wir wollen, dass die Frauen bei ihrer Rückkehr nach Syrien für den Alltag gerüstet und imstande sind, Miet- und Arbeitsverträge zu verstehen, Bewerbungen zu schreiben, Rechnungen zu begleichen und Anleitungen zu lesen.

Die Frauen werden spät abends und am Wochenende in unseren Schulen unterrichtet, und oft sind die Kinder ebenso aufgeregt wie sie selbst, wenn die Mama lesen lernt.

Witwen

Alleinstehende Frauen werden durch den Krieg besonders verletzlich. Sie sehen sich plötzlich in der Situation, ganz allein für den Unterhalt der Familie aufkommen zu müssen – etwas, wofür sie weder kulturell noch emotional vorbereitet wurden.

Frauen, die nicht in unseren Camps leben, versuchen, ihre Kinder durch illegale Arbeit über Wasser zu halten. Das birgt nicht nur die tägliche Gefahr, erwischt und sofort ausgewiesen zu werden, sondern wird durch den Staatsbankrott des Libanon auch generell immer schwieriger. Um diese Familien möchten wir uns ganz besonders kümmern. Unsere Witwentüten enthalten Grundnahrungsmittel für die ganze Familie (abgestimmt auf die Familien- zusammensetzung, z. B. mit Babynahrung, wenn Säuglinge zur Familie gehören, oder Diätkost und Medikamenten, wenn chronisch kranke Kinder da sind).

Neben allen anderen Sorgen und Ängsten können wir den Witwen so wenigstens die Angst nehmen, dass ihre Kinder verhungern.

Workshops

Handarbeit spielt im arabischen Raum bis heute eine große Rolle. Sticktraditionen gibt es teilweise seit hunderten von Jahren.
In unseren Workshops erhalten Frauen die Möglichkeit, verschiedene Handarbeiten zu erlernen, mit denen sie nach einer Rückkehr nach Syrien auch Geld verdienen können. Bis dahin werden die selbst gefertigten Produkte in unserem Online-Shop auf unserer Webseite verkauft und das Geld fließt selbstverständlich zurück in die Workshops.

Für die Frauen sind die Workshops viel mehr als Unterricht, der sie auf ein selbstbestimmtes Leben vorbereitet. Auch die Möglichkeit, sich sinnvoll zu beschäftigen und sich mit anderen Frauen austauschen zu können, sind lebenswichtig für sie.Trotz traumatischer Erlebnisse gehen die Frauen jeden Tag voller Freude an ihre Arbeit – und die wunderschönen Dinge, die sie herstellen, sind voll von ihrer Energie und Kraft.

Wenn Sie ganz gezielt die Frauen aus dem Zeltschule Women’s Workshop unterstützen möchten, dann werden Sie #eine von 1000!
1000 Frauen, die jeweils 25 Euro spenden, ermöglichen einen neuen Workshop.
Als Zeichen der Solidarität erhalten Sie das ZWW-Armband.

Frauensprechstunde

Geflüchtete haben meist keinerlei Zugang zu medizinischer Versorgung. In Syrien gehörten Krankenhäuser zu den primären Zielen der Bombardierung durch das Regime, wodurch das Gesundheitswesen praktisch nicht mehr existent. ist. Im Libanon können sich Flüchtlinge nur behandeln lassen, wenn sie die Behandlung selbst bezahlen – also gar nicht.

Das wollen wir ändern. Dass alle Frauen und Mädchen aber kostenlosen Zugang zu Verhütungsmitteln, Schwangerschaftsbegleitung, Vorsorgeuntersuchungen, Säuglingsberatung etc. haben, ist für uns ein Muss. Deswegen haben wir die Frauensprechstunde eingeführt, in der alle Mädchen und Frauen unserer Camps an sieben Tagen pro Woche von einer Hebamme und einer Krankenschwester beraten werden – und einmal pro Woche von einer Gynäkologin.

Alltagssexismus, Übergriffe, Machtmissbrauch

Das Hashtag „MeToo“ hat im Oktober 2017 eine Debatte über den Stand der Gleich- berechtigung von Mann und Frau entfesselt und aufs Brutalste bloßgelegt, was für weite Wege wir noch zu gehen haben.

Für Mädchen und Frauen auf der Flucht, die also ohnehin keine Rechte und keinen Schutz genießen, ist die Angst vor sexuellen Übergriffen noch größer – und auch das Risiko. Durch den Krieg werden mehr und mehr Mädchen viel zu früh sexualisiert: durch Versorgungsehen, in die ihre Eltern sie schon mit 13 oder 14 Jahren schicken, aus dem Wunsch heraus, ihnen ein scheinbar besseres Leben zu ermöglichen.

Früh verheiratete Mädchen werden zudem oft viel zu früh schwanger und die Strapazen von Schwangerschaft und Geburt haben nicht selten dramatische gesundheitliche Auswirkungen auf die noch nicht weit genug entwickelten Körper, so dass eine zu frühe Ehe buchstäblich lebensgefährlich sein kann.

Die Mädchen (und auch die Jungen!) brauchen dringend umfassende sexuelle Aufklärung, Schutz und alternative Perspektiven weg von frühen Zwangsheiraten hin zu Bildung, die es ihnen ermöglicht, auch unverheiratet ein unabhängiges Leben zu führen, wenn sie das möchten.

indePENdent Girls

Unsere indePENdent-girl-Kampagne macht genau da weiter, wo #notmetoo aufhört: Wir ermöglichen unseren Teenager- Mädchen den Besuch einer weiterführenden Schule (bis zur Hochschulreife) oder eine Berufsausbildung in einem unserer Workshops.

Bildung ist für alle unsere syrischen Kinder extrem wichtig und alle versuchen eifrig (und meist auch mit beeindruckendem Erfolg) die vom Krieg gestohlenen Schuljahre in Windeseile aufzuholen. Aber für Mädchen ist Bildung besonders wichtig, macht sie doch – mehr noch als bei Jungen – den Unterschied zwischen einem freien Leben und einem Leben in völliger Abhängigkeit aus.
Wir wollen unsere Mädchen stark machen für eine Zukunft, die ohnehin schon zahlreiche unüberwindbar scheinende Benachteiligungen und Erschwernisse für sie bereithält, für die wir sie durch Bildung, Aufklärung und viel Ermutigung wappnen.